Darlegungs- und Beweislast von Überstunden
LAG Niedersachsen ändert Urteil des ArbG Emden zulasten der Arbeitnehmer
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (im Folgenden LAG genannt) hat im Urteil vom 6. Mai 2021 (Az. 5 Sa 1292/20) klargestellt, dass weiterhin in erster Linie dem Arbeitnehmer die Darlegung- und Beweislast für geleistete Überstunden obliegt.
In dem vom LAG zu entscheidenden Fall hatte der Arbeitnehmer die Vergütung von ca. 400 geleisteten Überstunden geltend gemacht. Beginn und Ende der Arbeitszeit wurde mittels einer technischen Aufzeichnung erfasst. Pausen wurden nicht erfasst.
Der Arbeitnehmer (ein Auslieferungsfahrer) begab sich mit dem Fahrzeug zum Arbeitgeber. Von dort aus startete er nach Eingabe des Arbeitszeitbeginns seine Touren.
Arbeitsgericht Emden: Beweislasterleichterung für Arbeitnehmer
Erstinstanzlich hatte das Arbeitsgericht Emden zugunsten der Arbeitnehmer Beweislasterleichterungen gesehen und dem Arbeitnehmer die Vergütung der geleisteten ca. 400 Überstunden zugesprochen/der Klage des Arbeitnehmers stattgegeben. Dies mit der Begründung, dass Beginn und Ende der Arbeitszeit des Arbeitnehmers im Betrieb des Arbeitgebers ja mittels einer technischen Aufzeichnung erfasst würden.
Allerdings berief sich der Arbeitgeber darauf, dass hierdurch nur das Kommen und Gehen des Arbeitnehmers, nicht jedoch etwaige Pausen erfasst würden. Das Arbeitsgericht Emden vertrat die Auffassung, dass der Arbeitgeber gemäß § 618 BGB zur Aufzeichnung der Arbeitszeit verpflichtet sei. Weiterhin habe der Arbeitgeber bei der Arbeitszeiterfassung in europarechtskonformer Auslegung des § 618 BGB die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs zu berücksichtigen.
Hierbei verwies das Arbeitsgericht Emden auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019 (C 55/18). Hiernach sei der Arbeitgeber verpflichtet, eine Arbeitszeiterfassung einzuführen, so das Arbeitsgericht Emden.
Wenn das Erfassen der Ankunfts- und Abfahrtszeit des Arbeitnehmers, wie vom Arbeitgeber behauptet, keine Arbeitszeiterfassung darstelle, würde der Arbeitgeber den Beweis über die vom Arbeitnehmer geleisteten Arbeitszeiten und damit einhergehend auch geleistete Überstunden vereiteln. Dies wiederum habe eine Beweislastumkehr zulasten des Arbeitgebers zur Folge, denn der Arbeitgeber sei ja verpflichtet, eine Arbeitszeiterfassung zu ermöglichen.
Der Arbeitgeber müsse daher dann darlegen und beweisen, dass der Arbeitnehmer Pausen gemacht hat. Weiterhin müsse er entkräften, dass die vom Arbeitnehmer angegebenen Ankunfts- und Abfahrtszeiten nicht richtig seien.
Der Vortrag des Arbeitgebers hierzu sei unsubstantiiert gewesen. Der Arbeitgeber sei daher seiner Darlegungs- und Beweislast nicht nachkommen. Aus diesem Grunde gab das Arbeitsgericht Emden der Klage des Arbeitnehmers statt und sprach ihm die Vergütung der Überstunden zu.
Landesarbeitsgericht Niedersachsen sieht keine Beweislasterleichterung für Arbeitnehmer
Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen war hingegen anderer Auffassung. Der Europäische Gerichtshof habe, so die Richter, in dem vom Arbeitsgericht Emden zitierten Urteil (EUGH vom 14. Mai 2019, C 55/18) sowie der nach Auffassung des Arbeitsgerichts Emden einschlägigen Richtlinie 2003/88/EG nicht zu Fragen des Arbeitsentgelts Stellung genommen. Hierzu sei er auch nicht befugt.
Die fehlende Kompetenz des Europäischen Gerichtshofs, zu Fragen der Arbeitsvergütung Stellung zu nehmen, Folge aus Artikel 153 AEU, Abs. 5. Dieser regele ausdrücklich, dass der Artikel gerade nicht für Arbeitsentgelt gelte, d.h. der EUGH nicht zur Überprüfung von Fragen zur Arbeitsvergütung befugt sei. Soweit der Europäische Gerichtshof in seiner Entscheidung vom 14. Mai 2019 (C 55/18) Kernaussagen dazu getroffen habe, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, ein objektiv verlässliches und zugängliches System der Erfassung der Arbeitszeit der Arbeitnehmer einzuführen, sei diese Richtlinie noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden.
Salopp ausgedrückt sei es in Deutschland „noch nicht gültig“. Daher könne man entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts Emden aus diesem Urteil auch nichts für die Darlegungs- und Beweislast von Überstundenprozessen herleiten und damit auch keine Beweislasterleichterungen für Arbeitnehmer, so die Richter.
Fazit
Die Revision ist beim Bundesarbeitsgericht anhängig, es bleibt also weiterhin spannend. Aktuell ist es leider weiterhin so, dass Arbeitnehmer bei Überstundenvergütungsprozessen eher „die schlechteren“ Karten haben, weil sie dezidiert darlegen- und beweisen müssen:
- wann sie die Überstunden geleistet haben,
- was sie während der Überstunden gearbeitet haben und
- wer dies angeordnet oder geduldet hat.
Lediglich in Fällen, in denen der Arbeitgeber Arbeitszeiterfassungsbögen abzeichnet, haben Arbeitnehmer grundsätzlich (eher) gute Chancen, den Überstundenvergütungsprozess zu gewinnen. Denn mit dem Abzeichnen der Überstundenvergütungsbögen stellt der Arbeitgeber geleistete Überstunden streitlos (siehe auch BAG, Urteil vom 26. Juni 2019, 5 AZR 452/18).
Arbeitnehmern ist daher anzuraten, Überstunden zu dokumentieren und sich vom Arbeitgeber abzeichnen zu lassen.
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