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Schwerbehinderte Arbeitnehmer und Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes

Schwerbehinderte Arbeitnehmer oder ihnen gleichgestellte unterliegen dem Sonderkündigungsschutz, der in den §§ 85 SGB IX geregelt ist. Dies bedeutet, dass der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis mit einem schwerbehinderten Arbeitnehmer oder einem ihm gleichgestellten erst dann ordentlich oder außerordentlich kündigen kann, wenn das Integrationsamt (bzw. das Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGESO)) zuvor dieser Kündigung zugestimmt hat. Anderenfalls ist die Kündigung nichtig.

Dies gilt grundsätzlich selbst dann, wenn der Arbeitgeber gar nicht weiß, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert oder einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist. Viele Arbeitnehmer setzen den Arbeitgeber im Verlauf des Arbeitsverhältnisses über Ihre Schwerbehinderung/Gleichstellung in Kenntnis. Andere tun dies nicht, was zulässig ist.

Es ist zudem zulässig, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer den Arbeitgeber erst nach Ausspruch der Kündigung über seine Schwerbehinderung informiert. Auch dann kann er sich auf den Sonderkündigungsschutz berufen.

Hierbei kommt es jedoch entscheidend darauf an, innerhalb welcher Fristen diese Information nach Ausspruch der Kündigung dem Arbeitgeber zugehen muss. Das Bundesarbeitsgericht hat in verschiedenen Urteilen Aussagen darüber getroffen, innerhalb welcher Fristen dies zu erfolgen hat, damit das Recht des Schwerbehinderten oder diesem Gleichgestellten, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen, nicht verwirkt ist.

Keine Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung – Kündigung nichtig

Gemäß § 85 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Schwerbehinderten Menschen (oder eines ihm gleichgestellten) der Zustimmung des Integrationsamtes. Liegt diese Zustimmung bei Ausspruch der Kündigung nicht vor, so ist die Kündigung gemäß § 85 SGB IX i.V.m. § 134 BGB nichtig. Darauf, ob die Kündigung ansonsten z. B. durch personen-, verhaltens- oder betriebsbedingte Gründe sozial gerechtfertigt gewesen und daher ansonsten wirksam gewesen wäre, kommt es dann nicht mehr an.

Ab wann können sich Schwerbehinderte oder ihnen Gleichgestellte auf den Sonderkündigungsschutz berufen

Liegt dem schwerbehinderten Arbeitnehmer oder ihm Gleichgestellten bereits der entsprechende Bescheid vor, ist die Sachlage einfach: er kann sich unproblematisch auf den Sonderkündigungsschutz berufen.

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer/ihm gleichgestellte Arbeitnehmer kann sich zudem selbst dann auf den Sonderkündigungsschutz berufen, wenn er erst drei Wochen vor Zugang der Kündigung den Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung gestellt hat.

Muss der Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft haben?

Der Schutz des Schwerbehinderten oder ihm gleichgestellten geht sogar noch weiter: darauf, ob der Arbeitgeber zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung weiß, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert oder einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist, kommt es nicht an. D. h.: egal, ob der Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft/Gleichstellung des Arbeitnehmers hat oder nicht – der Schwerbehinderte/ihm Gleichgestellte kann sich auf den Sonderkündigungsschutz berufen.

Dies alles birgt somit auf der einen Seite ein großes Risiko für Arbeitgeber und auf der anderen Seite einen großen Schutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer oder ihnen Gleichgestellte in sich.

Innerhalb welcher Frist muss der Arbeitgeber nach Ausspruch der Kündigung über die Schwerbehinderung oder Gleichstellung informiert werden?

Vereinfacht ausgedrückt sollten schwerbehinderte Arbeitnehmer oder ihnen Gleichgestellte nicht zu lange damit warten, den Arbeitgeber nach Ausspruch einer Kündigung über ihre Schwerbehinderung/Gleichstellung in Kenntnis zu setzen, so sie das bislang noch nicht getan haben; denn wenn sie damit zu lange warten, kann ihr Recht, sich auf den Sonderkündigungsschutz der §§ 85 ff SGB IX zu berufen, verwirken.

Das Bundesarbeitsgericht hat in mehreren Entscheidungen Aussagen dazu getroffen, welche Frist angemessen ist mit der Folge, dass keine Verwirkung droht. Die Rechtsprechung ist nicht ganz einheitlich.

3-Wochen-Frist

Die spannende Frage war insbesondere, ob die angemessene Frist gewahrt ist, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer/Gleichgestellte binnen der 3-Wochen-Frist des § 4 KSchG (Anm: 3 Wochen ab Zugang der Kündigung) eine Kündigungsschutzklage erhebt und sich in dieser Klage auf den Sonderkündigungsschutz der §§ 85 ff SGB IX beruft, mithin den Arbeitgeber über seine Schwerbehinderung/Gleichstellung erstmals in Kenntnis setzt.

Wenn der Arbeitnehmer die Kündigungsschutzklage am letzten Tag der Dreiwochenfrist einreicht dauert es meist ein paar Tage, bis die Klage dem Arbeitgeber zugestellt wird. Darauf, wann das Gericht dem Arbeitgeber die Klage zustellt, hat der Arbeitnehmer keinen Einfluss. Die spannende und vom Bundesarbeitsgericht zu klärende Frage war somit, ob diese Dreiwochenfrist auch noch dann gewahrt ist, wenn die Zustellung der Klage an den Arbeitgeber erst einige Zeit später, d. h. nach Ablauf der vorgenannten Dreiwochenfrist erfolgt.

Der Arbeitgeber erhält in einer solchen Fallkonstellation aber erstmals mit einem Blick in die Klage Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und damit einhergehend vom Sonderkündigungsschutz/ von der Nichtigkeit der Kündigung, wenn er die Zustimmung des Integrationsamts nicht vor Ausspruch der Kündigung eingeholt hat. Folge ist, dass er die Zustimmung des Integrationsamtes einholen und erneut eine Kündigung aussprechen muss. Das Arbeitsverhältnis besteht jedoch zumindest bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, die mit der erneuten Kündigung aufgebracht wird, fort.

Rechtzeitigkeit der Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes

Das Bundesarbeitsgericht hat zuletzt in der Entscheidung vom 22. September 2016 (BAG, Az: 2 AZR 700/15) ausgeführt, was als Maßstab für die Rechtzeitigkeit der Geltendmachung des Sonderkündigungsschutzes gilt.

In dem dem Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der schwerbehinderte Arbeitnehmer die Kündigungsschutzklage innerhalb der drei-Wochen-Frist des § 4 KschG (3 Wochen nach Zugang der Kündigung) beim Arbeitsgericht eingereicht, die Zustellung der Klage (und damit einhergehend das in Kenntnissetzen des Arbeitgebers von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers) erfolgte am 22. Tag nach dem Zugang der Kündigung, d. h. einen Tag nach Ablauf der Dreiwochenfrist.

Das Bundesarbeitsgericht war der Auffassung, dass das Recht des Schwerbehinderten, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen, nicht verwirkt gewesen sei, da der Arbeitgeber bereits einen Tag nach Ablauf der Klagefrist des § 4 KSchG über die Schwerbehinderung/den Sonderkündigungsschutz des Arbeitnehmers in Kenntnis gesetzt wurde.

Welche Zeitspanne nach Ablauf der 3-Wochen-Frist genau einzuhalten ist, damit das Recht darauf, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen gewahrt ist, hat das Bundesarbeitsgericht aber leider bisher offen gelassen.

Fazit

Erhält ein schwerbehinderter Arbeitnehmer oder ein ihm Gleichgestellter eine Kündigung und wurde dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung/Gleichstellung bisher nicht mitgeteilt, sollte mit der Mitteilung an den Arbeitgeber vorsorglich nicht zu lange gewartet werden.

Vielmehr sollte darauf geachtet werden, dass die Kündigungsschutzklage so rechtzeitig beim Arbeitsgericht rechtshängig gemacht/eingereicht wird, dass sie noch innerhalb der 3-Wochen-Frist des § 4 KSchG (also binnen drei Wochen nach Zugang der Kündigung) dem Arbeitgeber zugestellt wird. So ist gewährleistet, dass sich der Arbeitgeber nicht darauf berufen kann, dass das Recht des schwerbehinderten Arbeitnehmers oder ihm Gleichgestellten, sich auf den Sonderkündigungsschutz zu berufen, verwirkt sei.

Arbeitgebern ist anzuraten, sich bei jeder Überschreitung der vorgenannten drei-Wochen-Frist auf die Verwirkung des Sonderkündigungsschutzes zu berufen. Gleichzeitig ist zu empfehlen, dass vorsorglich umgehend die Zustimmung des Integrationsamtes zu einer erneuten Kündigung eingeholt wird.


Rechtsanwältin Dr. Reichert-Hafemeister ist Fachanwältin für Arbeitsrecht und ausschließlich auf die Bearbeitung von Arbeitsrechtsangelegenheiten spezialisiert. Sie können sie gerne unter 030 679 665 434 oder über das Kontaktformular kontaktieren, um einen Beratungstermin in ihrem Büro in Berlin-Lichterfelde-West (nahe S-Bahnhof Lichterfelde West) zu vereinbaren.